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Mit Fenster gegen die Berge

Zweierlei wünscht sich Gertrud Heinzelmann zum bevorstehenden Abschluss am Mädchengymnasium der Stadt Zürich. Von ihren Eltern will sie einen Eispickel und dazu bar auf die Hand vier Schweizer Franken, die sie selbst auf das Konto des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins einzahlen will.

Zu Hause erregen die Wünsche keinen Widerstand, denn Mutter Bertha ist für das Frauenstimmrecht, und Vater Hans, als Kaufmann zwischen Oslo und Kairo unterwegs, beunruhigt es nicht, dass seine Tochter zu den Suffragetten will, wie die Stimmrechtlerinnen abschätzig genannt werden, und er stört sich ebenso wenig daran, dass sie zu den Alpinistinnen drängt. Diese gelten als Mannweiber, und die Bergsteiger verweigern ihnen missgünstig die Aufnahme in ihrem Club, weil Klettern das beliebte Vergnügen von Städterinnen ist, denen Freiheit und Leistung mehr bedeuten als eine gute Partie.

Im Gegensatz zu diesen beiden Neigungen stößt im Elternhaus von römisch-katholischer Konfession eine andere Veranlagung der Tochter auf Ablehnung. Dieser Wesenszug wird von keinem Familienmitglied geteilt, auch nicht in der weiteren Verwandtschaft. Er trägt Gertrud Heinzelmann den Übernamen «Betblätz» ein, eine Bezeichnung für einen Stofflappen, den eifrige Kirchgänger zum Beten unter die Knie schieben, um Schmerzen zu vermeiden. Dieser Spottname bedeutet, dass da eine entgegen der liberalen Familientradition allzu fromm niederkniet. Religiöse Handlungen und Heiliges üben auf die Gymnasiastin einen starken Zauber aus; ihr Verhältnis zur katholischen Kirche ist jedoch zwiespältig.

Das Herzstück im Zimmer der Gymnasiastin ist der kleine Schrank, in dem Bücher religiösen Inhalts neben staatstheoretischen Werken stehen. Zum Erstaunen ihrer Mitschülerinnen, die sich eine derartige Lektüre nur als Schulaufgaben zumuten würden, liest sie in ihrer Freizeit Bücher wie «Der Staat: über die Gerechtigkeit» von Platon. Täglich liest sie die «Neue Zürcher Zeitung», Vaters Leibblatt, und schwärmt für den gewaltlosen Widerstand des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Ghandi. In ihren Aufsätzen behandelt sie vorzugsweise theoretische Fragen, sodass eine Lehrerin findet, sie solle sich doch endlich einmal weniger abstrakten Themen zuwenden. Daneben ist sie eine leidenschaftliche Briefschreiberin, und der große Brieffreund, dem sie ein halbes Leben lang schreiben wird, ist Mutters jüngerer Bruder. Onkel Paul lebt in Rio de Janeiro, und überall in Brasilien gehen die Reichen und Schönen in Schuhen aus seiner Lederfabrik. Ihm schreibt Gertrud Heinzelmann im August 1933 in den letzten Sommerferien vor dem Abitur:

«Lieber Päuk!

Federhalterkauend & Glaceverdauend sitze ich in meiner Bude, & warte auf eine Inspiration für einen Brasil-Fackel. Weißt Du überhaupt, dass ich eine eigene Bude habe? Ich sage Dir, sie ist fabelhaft. Erstens mal hat sie eine wunderbare Lage: Mansarde, mit Fenster gegen die Berge. Zweitens ist sie erstklassig in der Möblierung: In der neuen Stube fanden der Schreibtisch & das Bücherkästchen keinen Unterschlupf & und diese stehen jetzt hier oben, zu meiner Freude natürlich nebst einer Klappe & einem Kasten. Sonst ist nichts da, kein Helgen oder sowas, & ich freue mich täglich über diese erzsachliche Möblierung, in der man so fein wenig abstauben & aufräumen muss. –

Das Fenster ist permanent sperrangelweit geöffnet, so dass ich von meinem Kopfkissen aus nach Herzenslust in die Wolken, oder den klaren Sternenhimmel oder eine sommerliche Vollmondlandschaft hineindösen kann. Dazu bin ich hier vor allen Ruhestörungen gesichert, wenn sich dennoch jemand in mein Juheh verirren sollte, so höre ich die Herrschaften von weitem die Estrichtreppe hinaufpoltern. Der Aufstieg ist ja weniger königlich, dagegen ist es aber die Bude umsomehr. –

Dies zur Illustration, damit Du, bis Du selbst Augenzeuge wirst, auf einem eventuellen Europabesuch per Zepp [Zeppelin], so ungefähr eine Ahnung hast, wo in der Welt meine Geistesprodukte wuchern, & wo ab & zu mal ein Päukbrief entsteht. – (…)

Also, Tschau Päuk, mit 1000 Grüßen und Küssen, Deine Trut.»

 

Im unteren Stockwerk des Mehrfamilienhauses leben die Eltern, die jüngere Schwester Elisabeth und zeitweise auch ein Dienstmädchen. Anders als die Schwester hat die Gymnasiastin nichts für Handarbeiten, Tier- und Blumenbilder übrig. Der Ausblick aus dem Fenster, ein Versprechen baldiger Freiheit, ohne das Kopfkissen unter dem elterlichen Dach aufgeben zu müssen, ist mehr nach ihrem Geschmack.

... Für ihre religiöse Veranlagung weiß die Gymnasiastin keinen Ort. Durch Wallisellen zieht sich ein unsichtbarer Graben zwischen der überwiegenden protestantischen Mehrheit und den Katholiken. Erstere schauen abschätzig auf die «Katholen» hinunter, die als ungelernte Arbeitskräfte in den Fabriken oder im Haushalt beschäftigt sind, im Dorf keine eigene Kirche haben und den Priester mit der Nachbargemeinde teilen müssen. Hin und wieder besucht Gertrud Heinzelmann die Sprechstunden des zuständigen Geistlichen und will Erklärungen, weshalb sie nicht ministrieren darf, weshalb eine Frau nicht wie ein Mann predigen, die Beichte abnehmen und das Abendmahl austeilen dürfe. Die Besuche führen zu heftigen Debatten, die der Geistliche mit dem Hinweis beendet, dass sie alles nachlesen könne bei Augustinus oder Thomas von Aquin, und mit einem theologischen Band aus der priesterlichen Bibliothek wird sie nach Hause geschickt.

 

Lektorat "Die Unbeirrbare":
Ingrid Fichtner (Lyrikerin), Heidi Witzig (Historikerin) und Erwin Künzli (Limmat Verlag).

Gertrud Heinzelmann, Die Unbeirrbare, Pionierin, Frauenrechtlerin, Frauenemanzipation, Frauenbewegung, Frauenstimmrecht, Gleichberechtigung, Menschenrechte, Zweites Vatikanisches Konzil, Vatikanum II, Priesterinnen, römisch-katholische Kirche, Ordination

Die Unbeirrbare
eBook,
gebundene Ausgabe antiquarisch,
320 Seiten, Limmat Verlag.